Emilia Busse Die Nebel der Liebe
Geschichte
Leseprobe 1:

Fünf Monate Liebe

Stettin, Winter 1942.
Aus Furcht vor Bomben war die Stadt in tiefe Dunkelheit getaucht, auch wenn Anfang 1942 Stettin bislang noch verschont worden war. Der Winter war streng und die Temperaturen entsprechend niedrig. Der Schnee verschlang fast völlig die wenigen Geräusche. Es herrschte gespenstische Ruhe. Umstände, die das frühe Aufstehen und den Weg zur Arbeit nicht gerade angenehm gestalteten. Ich konnte von Glück reden, dass ich im selben Hotel wohnen durfte, in dem ich seit Anfang Januar eine Arbeit gefunden hatte. So musste ich morgens nicht auf die Straße.

Kurz vor Jahresende hatte ich beim Arbeitsamt vorgesprochen, um eine annehmbare Beschäftigung vermittelt zu bekommen. Ich besaß keinerlei Zeugnisse oder Empfehlungsschreiben und konnte lediglich anführen, dass ich im Betrieb meiner Eltern ausgeholfen hatte. Sie besaßen eine Pension in Manresa, einer Stadt in der Provinz Barcelona. Dort hatte ich den Gästen das Essen serviert. Diese Aussage nutzte zwar nicht viel, immerhin empfahl man mir, die freie Stelle im Hotel Metropole anzunehmen. Dort suchte man eine Hilfe für die beiden Servierfräulein. Meine Aufgabe bestand darin, die Bestellungen in die Küche zu bringen und dort abzuwarten, bis mir die Köche die Gerichte übergaben, um diese mit dem entsprechenden Geschirr auf ein hölzernes Tablett zu stellen, das Ganze dann durch einen langen Flur zu tragen und schließlich auf einem Tisch abzusetzen. Dieser Tisch war wiederum die Zwischenstation für alles, was aus der Küche kam und für den Speisesaal bestimmt war und aus selbigem wieder zurück an die Küche ging. Die Arbeitsgänge, die zwischen Tisch und Speisesaal zu verrichten waren, übernahmen die Servierfräulein. Sie setzten die Speisen auf silberne Tabletts, trugen sie in den Speisesaal
und tischten sie den Gästen auf.

Ich bediente also die Kellnerinnen. Manchmal, wenn es morgens viel zu tun gab, durfte ich mithelfen, den Gästen das Frühstück zu reichen. Später konnte ich dann die Tische abräumen und das gebrauchte Geschirr wieder in die Küche tragen. In der übrig bleibenden Zeit durfte ich Silberzeug wie Bestecke, Kaffeekannen, Zuckerdosen, Sahnekännchen, Suppenschüsseln, Saucieren und Ähnliches polieren, so lange, bis ich mich klar und scharf, oft auf lustige Weise durch die jeweilige Form des Objekts entstellt, spiegeln konnte.

Um die ersten Gäste ab zwölf Uhr mittags bedienen zu können, sollten die zwei Kellnerinnen und ich eigentlich eine halbe Stunde vorher unser Essen vom Koch erhalten, was so gut wie nie pünktlich geschah. Lieselotte und Gertrud schlangen ihre Mahlzeit mit atemberaubender Geschwindigkeit herunter. Ich war jedes Mal aufs Neue verblüfft. Mit Sicherheit schluckten sie, ohne richtig zu kauen. Als Spanierin war ich es gewohnt, die verschiedenen Speisen bewusst zu schmecken und das Essen zu genießen.

Für das Personal wurde separat gekocht. Es gab manchmal Eintopf, ab und zu auch ein kleines Stück Fleisch oder Fisch mit Gemüse und Pellkartoffeln. Das Essen befand sich stets auf einem einzigen, wenn auch großen Teller. Gertrud und Lieselotte pellten die Kartoffel nie. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht wollten sie nichts verschwenden, vielleicht keine Zeit vergeuden. War es ihnen gleich?
Oder mochten sie die Kartoffel mit Schale gar lieber essen?

Wir hätten theoretisch auch Nachschlag an Gemüse und Kartoffeln bekommen können, aber dazu kam es nie. Für mich war das Essen reichlich, und fertig wurde ich ohnehin nie rechtzeitig. Meine Pellkartoffeln wurden von der Schale befreit, sonst hätte ich sie nicht essen können, und so nahm ich meine Mahlzeit noch ein, als ich bereits voll beladen mit den ersten Bestellungen zwischen Küche und Speiseraum hin- und herpendelte. Auch gab es, während wir auf die Ankunft neuer Gäste warteten, die eine oder andere Gelegenheit, einen Bissen zu sich zu nehmen.

An einem Morgen im Januar überraschte mich Gertrud mit einer Mitteilung. Ein neuer Gast war eingetroffen und er kam aus Spanien.
»Du wirst dich um diesen Herrn kümmern. Du übersetzt ihm die Speisekarte und servierst ihm seine Gerichte direkt an den Tisch«, sagte sie in einem etwas gebieterischen Ton.
»Ist ja schon gut. Versteht er denn kein Deutsch?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, es wird ihn freuen, mit dir Spanisch sprechen zu können.«
»Einverstanden, es macht mir nichts aus, diesen Herrn im Speisesaal zu bedienen.«

Das Metropole war ein erstklassiges Hotel. Das elegante Eckgebäude im klassizistischen Stil lag zentral, ganz in der Nähe vom Marktplatz, wo sich Bahnhof, Rathaus und Hauptpost befanden, an der Heiliggeiststraße, parallel verlaufend zum Ufer der Oder, dem so genannten Bollwerk, an dem die Schiffe be- und entladen wurden. Die großen Fenster waren innen mit luxuriösen Vorhängen und Gardinen behängt. Die ungewöhnlich hohe Decke im Speiseraum wurde durch Pfeiler gestützt, die mit Spiegeln verkleidet waren.

Um in den Speiseraum zu gelangen, musste man drei Stufen hinuntergehen, an der Rezeption und einem Salon vorbeilaufen, der mit Sesseln und einem kleinen Tisch zum Zeitunglesen möbliert war. Auf dem Weg zur Küche glichen drei weitere Stufen abermals die leicht abschüssige Lage aus. Dieser Umstand machte meine Arbeit um einiges mühsamer. Treppauf, treppab, unzählige Male; und das beladen mit Speisen in schwerem Porzellan. Das Geschirr auf dem Holztablett war von enormem Gewicht. Später erfuhr ich, dass diese Arbeit keine Frau für längere Zeit aushielt. Schon gar nicht mit der ständigen Hetze, zu der einen die beiden Servierdamen antrieben, und der geringen Aufmerksamkeit des phlegmatischen Kochs.

An dem Morgen, an dem ich von der Ankunft des spanischen Gastes erfuhr, musterte ich jede einzelne Person, die den Speisesaal betrat. Als ich wieder einmal aus der Küche kam und ein Frühstück brachte, bemerkte ich einen mir unbekannten Mann, der an einem Einzeltisch in einer Ecke gegenüber der Theke, etwas abseits der übrigen Tische, Platz genommen hatte. Fast wäre er mir entgangen, unauffällig saß er dort, als ob es schon immer sein Platz gewesen wäre. Ich hatte doch die ankommenden Gäste beobachtet, warum hatte ich ihn nicht kommen sehen?

Ich verharrte einige Zeit und betrachtete ihn. Er saß missmutig dreinblickend am Tisch und machte einen insgesamt finsteren Eindruck auf mich. Er sah eigentlich auch nicht sehr spanisch aus. Vielleicht lag es am Ernst seiner Gesichtszüge oder an seinem Haarschnitt. Schwarze, sehr kurze Haare, die wie Stacheln eines Igels abstanden. Große buschige Augenbrauen beschatteten seine schwarzen Augen. Sie verstärkten noch sein grimmiges Aussehen. Seine Ausstrahlung hatte etwas von Unnahbarkeit. So als wollte er keine persönlichen Kontakte und nur die notwendigen Gespräche mit angemessener Distanz zulassen. Auf der anderen Seite hatte er auch nichts typisch Deutsches an sich. Er war weder besonders groß noch von kräftiger Statur. Ich schob die Gedanken über sein Äußeres beiseite und begrüßte ihn.
»Guten Morgen!«, sagte ich auf Spanisch.
Mit sehr leiser Stimme rief er aus: »Was für eine Überraschung!
Sind Sie etwa Spanierin?«
»Ja, mein Herr, gebürtige Spanierin.«
»Sehr erfreut, Sie kennen zu lernen, Señora ...?«
»Ich heiße Emilia Busse, zu Ihren Diensten.«
»Mein Name ist Victor Cabral da Silva.«
»Wünscht der Herr Kaffee zum Frühstück oder Tee?«
»Kaffee, bitte.«
Ich hätte ihn am liebsten darauf aufmerksam gemacht, dass er kaum zu verstehen sei, aber ich traute mich nicht. Es war weniger ein Sprechen als ein sanftes Murmeln, das man kaum verstehen konnte, auch wenn man ein ausgezeichnetes Gehör hatte.

Ich brachte ihm sofort sein Frühstück aus der Küche und räumte den Tisch erst ab, als er schon gegangen war. Zur Mittagszeit nahm er an demselben Tisch Platz. Ich ging mit der Speisekarte zu ihm und übersetzte die verschiedenen Gerichte, damit er auswählen konnte. Dabei erzählte ich ihm, dass man mir eine Sondererlaubnis erteilt hatte, ihn während seines Aufenthaltes zu bedienen, weil ich seine Sprache verstand. Anscheinend gefiel ihm das. Mit einem Lächeln erwiderte er:
»Sehr erfreut, dreimal am Tag das Vergnügen zu haben, Sie zu sehen.«
»Verzeihen Sie«, bat ich, »ich kann Sie kaum verstehen, Sie sprechen sehr leise.«
Ich war nicht schwerhörig, auch wusste ich, dass es damals hierzulande zum guten Ton gehörte, leise zu reden, aber dieser Mann übertrieb. Ich begriff, dass es seine Gewohnheit war, trotzdem machte ich ihn darauf aufmerksam. Eine Annäherung aus diesem Grund wäre wohl fehl am Platze gewesen und davon abgesehen auch unschicklich. Sein Lächeln verstärkte sich noch und er wiederholte seine Worte in einem etwas lauteren Ton.
»Sie sind zu liebenswürdig. Und nun entschuldigen Sie mich bitte.«

Es vergingen nur wenige Tage, bis ich eine weitere Eigenart an ihm bemerkte. Er musterte und beobachtete mich nicht nur, während ich ihn bediente; seine Augen folgten mir überallhin. Nach dem Essen hielt er sich im drei Stufen höher gelegenen Salon neben dem Speisesaal so lange auf, bis ich meine Arbeit beendet hatte. Von dort, bequem in einem der Sessel sitzend, konnte er mich beim Abräumen beobachten. Dabei nutzte er seinen Standort geradezu strategisch. Je nach Bedarf nahm er dafür den großen Spiegel am Tresen oder die schmalen an den Pfeilern zu Hilfe. Ich konnte bald in keinen Spiegel mehr schauen, ohne dass sich unsere Blicke trafen und jedes Mal lächelte er, als ob er sich dafür entschuldigen wollte. Seine Augen waren nunmehr überall.

Zunächst war mir gar nicht wohl bei dem Gedanken, seine Aufmerksamkeit auf mich gezogen zu haben. Ich war beunruhigt und irritiert.
Was bedeutete seine Beharrlichkeit?
Machte er sich einen Spaß daraus, meinen Bewegungen zu folgen?
Schließlich gewöhnte ich mich an seine Blicke, was blieb mir auch anderes übrig?
Es fing sogar an, mir zu gefallen. Ich glaube, keiner Frau missfällt es, bewundert zu werden.

Die nächste Überraschung ließ nicht lange auf sich warten. Ich räumte gerade seinen Tisch ab, als mir ein sorgsam gefalteter Zettel auffiel, der kaum sichtbar unter einem Teller hervorlugte. Neugierde überkam mich. War es eine Nachricht für mich?
Voller Spannung entfaltete ich das Papier, dann las ich:
»Heute mundete mir das Menü, das Sie mir freundlicherweise empfahlen, besonders gut. Vielen Dank!«
In der Tat riet ich ihm das eine oder andere Mal zu etwas, von dem ich meinte, es könne ihm schmecken. Fortan häuften sich seine Botschaften. Ich halte mich nicht für besonders neugierig, aber ich konnte nicht umhin, die kleinen, halb versteckten Zettel zu lesen. Was hatte sich dieser Mann nur vorgenommen?
War das nur ein Zeitvertreib?
Bald sollte ich es erfahren. Er schickte mir eine Einladung.
»Gestatten Sie mir bitte, Sie zu einem Kaffee und etwas Konversation einzuladen?
Während der Mahlzeiten können wir uns nur sehr wenig unterhalten. Ich werde gegen drei Uhr auf Sie warten, in der Hoffnung, es nicht umsonst zu tun.«

Er schien anzunehmen, dass ich die Nachmittage frei hatte. Es stimmte, bis um sieben Uhr, wenn das Abendessen serviert wurde, machte ich Pause. Wollte er im Freien auf mich warten? Bei dieser Kälte?
Es war Winter und Berge von vereistem Schnee türmten sich auf Bürgersteigen und Straßen, nicht mehr so weiß, nicht mehr so schön.

Ich dachte nicht daran, seine Einladung abzulehnen, wie sonst hätte ich mehr erfahren können über diesen Mann, der mich mit seinen Blicken bestürmte und mit Zettelchen belagerte.

Nach der Arbeit ging ich in das Zimmer, das ich mit drei Kolleginnen aus der Küche teilte, um mich etwas zurechtzumachen und umzuziehen. Dann zog ich Mantel, Schal, Handschuhe und Wollmütze als Schutz gegen die Kälte an und trat aus dem Hotel. In der Tat, da stand er und wartete bereits auf mich. Da ich das Lokal hatte wählen dürfen, in dem wir einen Kaffee trinken wollten, gingen wir in Richtung Innenstadt, wo sich
die besten Geschäfte und elegante, viel besuchte Cafés befanden. Wir suchten uns eines davon aus. Es hatte wohl auch einen Namen, wie jedes Café, aber dem schenkten wir keine Aufmerksamkeit. Victor taufte es »Zum Schmetterlingskellner«.

Nachdem wir einige Male zusammen ausgegangen waren, bestand er darauf, dass ich ihn Victor nannte.

Januar, Nebel, klirrende Kälte und kurze Tage – was gibt es da Besseres, als in einem Café zu sitzen und sich ein wenig zu unterhalten?
Es gefiel uns, immer denselben Ort aufzusuchen, uns an denselben Tisch zu setzen und von demselben Kellner bedient zu werden, dem Schmetterlingskellner. Er war ein Mann mittleren Alters, ziemlich kahlköpfig, mit einem kleinen Büschel blonder Haare auf dem Haupt, geteilt durch einen akkuraten Scheitel in der Mitte. Es sah wirklich aus, als ob sich ein müder Schmetterling mit hängenden Flügeln auf seiner Glatze niedergelassen hätte.
Sonderbar, nicht?
Victor formulierte diesen treffenden Vergleich und wir mussten lachen. Unsere Gespräche fanden wir gegenseitig hochinteressant. Im Alter von 37 Jahren hatte ich schon einiges zu erzählen. In Spanien hatte ich den Ausbruch des Bürgerkrieges erlebt und nun war wieder Krieg. Er hörte mir sehr aufmerksam zu, und wir fanden es toll, in einem fremden Land unsere Muttersprache zu sprechen.

Zunächst erzählte Victor mir, warum er sein Haar so kurz geschnitten trug. Nun, der deutschen Sprache nicht so mächtig, hatte er beim Friseur auf gut Glück immer einsilbig mit »Ja« geantwortet, und dieser hatte wohl die seltene Gelegenheit beim Schopfe gefasst, im wahrsten Sinne des Wortes. Als er dies erzählte, musste ich herzlich lachen. Plötzlich fragte Victor mich, ob ich verheiratet sei.
»Verwitwet«, antwortete ich und er erwiderte darauf schnell:
»Ich auch.«
»1939, kurz bevor der Krieg ausbrach, verstarb mein Mann in Pölitz hier ganz in der Nähe. Das ist einer der Gründe, warum ich in diese Stadt zum Arbeiten gekommen bin. Ich will mich um sein Grab kümmern und meinen Verwandten nahe sein. Meine Tochter lebt bei einer Tante meines verstorbenen Gatten in Cammin. Eine Ortschaft nördlich von hier an der Ostsee.
Haben Sie auch Kinder?«
»Nein, ich habe keine Kinder. Meine Familie lebt in La Coruña und in Portugal.«
»Ihr Familienname hört sich nicht spanisch an. Er ist portugiesisch, richtig?«
»Ja, Sie haben Recht, meine Vorfahren waren Portugiesen.
Einer meiner Brüder lebt in Cascais, einem sehr schönen Fischerdorf ganz in der Nähe von Lissabon. Kennen Sie es?«
»Nein, ich bin lediglich in Katalonien, Aragón und Valencia ein wenig herumgekommen. Meine Familie lebt größtenteils in der Gegend um Barcelona.«
»Vermute ich richtig«, fragte er mich weiter aus, »war Ihr Mann Deutscher? Haben Sie sich in Spanien kennen gelernt?«
»Ja, er kam als Gast in die Pension meiner Eltern. Er gehörte einer Gruppe von sechs Deutschen an, die eine der größten Textilfabriken in unserer Region errichtet haben.«
»Ja ... Wie und wann sind Sie denn in dieses Land gekommen?«
»1936, als in Spanien der Bürgerkrieg ausbrach.«
»Auf diese Weise sind Sie dem Krieg aus dem Weg gegangen«, bemerkte Victor.
»Ja, genau. Bis auf die ersten Wochen, aber bereits diese gaben Zeugnis entsetzlicher Brutalität und Grausamkeit.«

Damals ahnten wir bereits, was für eine furchtbare Welle von Gewalt und Leid Spanien überrollen würde. Mein Mann, Alfred, war zu jener Zeit für ein Schweizer Unternehmen mit dem Bau von Bohrtürmen zur Kaliförderung beschäftigt. Die Baustelle befand sich in Sallent, einem kleinen Ort unweit von Manresa. Als der Bürgerkrieg ausbrach, gaben Geschäftsleitung und Ingenieure das Projekt auf, so dass auch er die Stellung verlor. Es herrschte allgemeines Chaos und die Lage wurde zunehmend unsicher. Wir hörten von einem deutschen Freund, der nur auf Grund der Vermutung, er sei Nazi, verhaftet worden war. Erst viel später ließ man ihn wieder frei. Angesichts der um sich greifenden Angst und der Gerüchte von standrechtlichen Erschießungen ohne Gerichtsverhandlung wollten die in Spanien residierenden Ausländer zunehmend das Land verlassen. In diesen Wochen lebten wir im Ungewissen. Die grundlose Inhaftierung unseres Freundes war alarmierend genug. Wir nutzten die letzte Gelegenheit, als per Rundfunkaufruf deutschen Bürgern die Möglichkeit gegeben wurde, mit einem in Barcelona vor Anker liegenden Passagierschiff kostenlos in die Heimat evakuiert zu werden.

Trotzdem wollte Alfred eigentlich nicht gehen. Das Leben in Spanien gefiel ihm. Während des Ersten Weltkrieges hatte er bei der Marine gedient und sich danach von einem Handelsschiff anheuern lassen. Er und zwei seiner Kameraden waren 1923 in Barcelona unerlaubt von Bord gegangen, um in Spanien zu bleiben. Der Bruch der Heuer war einer der Gründe, warum mein Mann nicht unbedingt in sein Heimatland zurückkehren wollte.

Aber ich, ich war ganz versessen darauf, Deutschland kennen zu lernen. Ich war neugierig auf die Städte, Wälder und Flüsse, von denen er mir so viel erzählt hatte, auf das Land mit seinen Menschen, deren Brauchtum und Mentalität, die ich auch an ihm so sehr schätzte. Wir waren ohne Anstellung und den Schrecken des Bürgerkrieges ausgeliefert. In dieser Situation bot sich die Chance, nach Deutschland überzusiedeln. Warum noch zögern?
Wir konnten bei seinen Eltern wohnen und Arbeit würde er in Berlin oder Umgebung sicher finden. Schließlich machten wir uns auf den Weg.

Die Möbel ließen wir in meinem Elternhaus in Manresa. Mit ein paar Koffern schifften wir uns in Barcelona mit Ziel Genua ein. Von dort aus kamen wir über Österreich nach Bayern, wo wir acht Tage blieben. In dieser Zeit half man den Heimkehrern, die keinen Wohnsitz oder keine Arbeit hatten. Bei der zuständigen Behörde stellten wir den Antrag. Wir gaben an, dass wir bei meinen Schwiegereltern unterkommen könnten. Das wurde akzeptiert, und wir bekamen die Kosten der Reise ersetzt. Wir hatten keinerlei Schwierigkeiten. Der kleine Fehltritt meines Mannes war wohl schon verjährt und nicht mehr aktenkundig. Es war zu viel Zeit vergangen und zu vieles hatte sich inzwischen geändert.

»Waren Sie während des Krieges in Spanien?«, fragte ich Victor.
»Ja. Ich diente unter Caudillo Franco und kannte ihn sogar persönlich«, gab er mir zur Antwort.
»Mein Bruder wurde von den Republikanern einberufen«, fuhr ich fort.
»Er hatte das Glück, alle Kämpfe, an denen er teilgenommen hat, unversehrt zu überstehen.«

Unsere düsteren Vorahnungen über die hereinbrechende Gewalt des spanischen Bürgerkrieges bestätigten sich leider viel zu schnell. Schon die ersten Tage waren entsetzlich. Grauenvolle Missetaten ereigneten sich. Unter den Republikanern stritten die einzelnen Gruppen und Parteien um die Macht. Kommunisten, Trotzkisten, Sozialisten und Anarchisten kämpften mehr untereinander als gegen die aufständischen Generäle. Bis die links orientierten Gruppierungen das Chaos wieder ein wenig ordnen konnten, herrschte Willkür. Nur langsam bekamen sie die Situation in den Griff, so dass neue Spielregeln gelernt und beachtet werden konnten. Eine neue Art von »Normalität« entwickelte sich. In den ersten Wirren hatten sich den anarchistischen Gruppen auch völlig unpolitische »Freunde« angeschlossen. Freunde der Gewalt, wie Kriminelle und Schläger, denen die ungeordnete und unsichere Lage eine willkommene Plattform für ihre Untaten bot. So konnten diese Gruppen fast legal ihr eigenes Süppchen kochen.

Ein Bekannter von uns zum Beispiel, als herzensguter Mensch und Arzt hochgeschätzt, wurde verhaftet und kehrte nie wieder zurück. Oftmals lagen nur persönliche Gründe vor, um jemanden aus dem Weg zu räumen und auf diese Art ganz private Rechnungen zu begleichen. Auch um Schulden einzutreiben, wie einige glaubwürdige Zeugen berichteten. An einen Fall erinnere ich mich besonders gut, da es sich um einen Nachbarn der Pension meiner Eltern handelte. Der gute Mann war Garderobier im Casino der Stadt, sehr fromm und als konservativer Katholik bekannt. Grund genug für Linksextremisten, ihn aus dem Weg räumen zu wollen. Diese führten regelmäßig »Spazierfahrten« durch, bei denen sie die in Ungnade Gefallenen im so genannten Geisterwagen verschleppten und exekutierten. Diesen Besuch wartete er nicht ab. Er stürzte sich vom Balkon seiner im dritten Stock gelegenen Wohnung, als die Schergen an der Tür klopften.

In Sallent, wo wir zu Beginn des Bürgerkrieges wohnten, bildeten sich berüchtigte »Freigerichte«, bei denen zumeist unter freiem Himmel von Selbsternannten »Recht gesprochen« wurde. Ein geduldeter Vorgang, da die Abschaffung der Justiz genauso wie die Ablehnung von Staat und Exekutive zur Hauptforderung der sich damals verbreitenden anarchistischen Bewegung geworden war. Ich überquerte gerade den Platz vor dem Rathaus, um meine Einkäufe zu erledigen, als ich einer Gruppe von Männern und Frauen gewahr wurde, die hitzig und wild gestikulierend aufeinander einredeten, ohne sich darüber einig zu werden, zu was sie nun den armen »Angeklagten« verurteilen konnten. Die einen plädierten für Gefängnis, andere wollten ihn an die Front schicken und der Rest war schlicht für Erschießen.
Waren diese Leute nun Anarchisten?
Oder ungebildete Wichtigtuer?
Oder beides?
Ich weiß es nicht. Ohne stehen zu bleiben, ging ich weiter.
Wer war der Beschuldigte?
Wie würde das »Urteil« lauten?
Ich wollte es nicht wissen. Was für ein Unglück für das Opfer, diesen Menschen in die Hände gefallen zu sein, die in arroganter Anmaßung und Selbstüberschätzung über andererichteten. Ich war darüber entsetzt, wohin Hass erzürnter und unverantwortlicher Menschen führen konnte, wenn sie die Macht dazu hatten. Ich konnte nicht mit anschauen, was aus dem armen Mann wurde, der in die Hände der tobenden Menge geraten war.

Durch die Unterhaltungen lernten wir uns immer besser kennen und die Zeit verging wie im Fluge. Ein anderes Mal begann Victor unser Gespräch mit der Bemerkung:
»In dieser Stadt spürt man vom Krieg nicht viel. Die Schaufenster der Geschäfte sind voll mit Waren aller Art.«
»Die Wirklichkeit sieht anders aus«, gab ich zu bedenken.
»Viele Schachteln und Pakete, wie etwa Schokolade oder Kekse, sind eigentlich leer. Anstelle von essbaren Produkten sieht man jetzt große Porträts des Führers in den Regalen. Die Lebensmittelrationierung ist schon seit Längerem eingeführt, aber bis jetzt mussten wir noch keinen Hunger leiden. Wenn es Reserven gibt, sind sie in erster Linie für die Frontsoldaten bestimmt. Ich nehme an, das ist in jedem Krieg so. Organisationstalent und Disziplin, das haben sie, die Deutschen. Mein Vater hatte schon immer eine besondere Vorliebe für Deutschland. Mehr als einmal hörte ich ihn die Vorzüge des germanischen Volkes loben. Er schwärmte von ihrem Fleiß und ihrer Korrektheit.«
»Pünktlichkeit, Sauberkeit und Ordnungsliebe sind, neben der Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit, auch besondere Eigenschaften des deutschen Volkes«, bemerkte er. Ich fragte Victor:
»Glauben Sie«, wir waren noch per Sie, auch wenn wir uns bereits beim Vornamen ansprachen,
»dass es wahr ist, was viele sagen? Dass vom Führer eine fast hypnotische Wirkung, eine faszinierende Anziehungskraft auf seine unmittelbare Umgebung ausgeht – eine Kraft, der man nicht widerstehen kann, von der man in eine Art andächtiger Bewunderung versetzt wird?
Ähnlich dem, was man sich vom ›Generalíssimo‹ Franco erzählt?«

Ich selbst hatte einmal die Gelegenheit, Hitler aus kurzer Entfernung zu sehen, jedoch spürte ich dabei nichts Außergewöhnliches. Damals arbeitete Alfred am Bau einiger Bunker in der Nähe von Trier. Auf dem Weg zur Baustelle kam der Führer durch die Straße, in der wir wohnten. Zahlreiche Soldaten standen die gesamte Strecke Spalier. Ich sprach mit einem von ihnen über diesen seltsamen Zauber. Er stand direkt vor dem Haus der Familie Classen, bei der wir ein Zimmer mit Küche bewohnten. Er versicherte mir, diese Anziehungskraft zu spüren.

In diesem kleinen Arbeiterdorf kamen Frauen, Kinder und einige Männer aus ihren Häusern, um dem Spektakel beizuwohnen. Sie waren herausgeputzt und trugen ihre feinsten Kleider oder festliche Trachten. Wir taten es ihnen nach und Frau Classen gab meiner Tochter Berta einen kleinen Blumenstrauß aus ihrem Garten. Wie alle anderen warteten wir darauf, den Führer vorbeifahren zu sehen. Er kam in einem offenen Wagen, und wir begrüßten ihn mit erhobenem Arm und dem vorgeschriebenen Gruß »Heil Hitler!«. Auch er grüßte und schaute meine Tochter für einen Augenblick lächelnd an. Es schien ihm zu gefallen, ein so hübsch gekleidetes und niedliches Mädchen auf dem Lande zu sehen. Der Wagentross fuhr vorbei und das war schon alles. Ich empfand nichts, gar nichts.
Aus Mangel an Vaterlandsliebe, weil ich in einem anderen Land geboren war?
Allerdings muss ich zugeben, dass der ungeheure Respekt und die Bewunderung, die dem Führer entgegen gebracht wurden, auch mich beeindruckten.

»Über Hitler kann ich Ihnen nicht viel sagen, im Gegensatz zu unserem ›Caudillo‹ Francisco Franco, mit dem ich ja befreundet bin und von dem ich behaupten kann, dass er im persönlichen Gespräch eine fast übernatürliche Überzeugungskraft besitzt.«
»Ja, aber ist er nicht mitschuldig an unserem Bürgerkrieg?«
Mein Vater war ein leidenschaftlicher Pazifist. Ich hörte ihn einmal zu Gästen sagen:
»Um Kriege zu vermeiden, wäre es wohl das Beste, wenn alle Grenzen verschwinden würden.«
Manchmal gab er sich philosophisch.

Es wurde schon spät, und ich musste zum Hotel zurück, um mich für meinen Dienst umzuziehen.

Die Unterhaltung mit Männern bereitete mir damals schon immer mehr Freude als die mit Frauen. Sie redeten meistens über Mode, Klatsch und Tratsch aus der Nachbarschaft und über die »Oberen Zehntausend«. All diese Themen interessierten mich nicht im Geringsten. Männer hingegen redeten im Allgemeinen über Politik, Technik, Sport oder andere Themen. Jedenfalls vielfältiger. Meine Interessen sind das Theater, die Musik, Kunst und Literatur, die Natur – Pflanzen und Tierwelt. Insbesondere alles, was mit der Schöpfung zu tun hat, wie die Entstehung des Universums und andere Wissenschaften. Mit Victor konnte ich mich über all das unterhalten. Er war gebildet, ein aufmerksamer Zuhörer und ein vollkommener Kavalier; besonders höflich, galant und liebenswürdig. Seine Umgangsformen schätzte ich an ihm besonders; wie er mir einen Stuhl zurechtrückte, in den Mantel half oder bei unseren Spaziergängen immer auf der Straßenseite ging, um mich vor möglichen Gefahren zu schützen, an die ich nicht im Entferntesten dachte. Seine Aufmerksamkeiten ließen mich lächeln, ich kam mir vor wie eine Königin und fühlte mich glücklich.
Ja, ich hatte einen wirklich guten Freund!

Ach ja! Aber Männer wollen meistens mehr, als nur ein guter Freund zu sein. Unsere intime Beziehung begann, nachdem er mich gebeten hatte, ihm einen Knopf anzunähen. Ich sollte dafür, wenn möglich, nach meiner Arbeit in sein Zimmer kommen.

Gelegentlich brachte ich den Gästen, die nicht im Speisesaal essen wollten, ihr Frühstück aufs Zimmer. Warum sollte ich also nicht nach oben gehen, um einen Knopf anzunähen?
In diesem Moment dachte ich nicht daran, dass etwas anderes geschehen könnte. Ich war schon immer etwas arglos gewesen und konnte mir nicht vorstellen, dass jemand schwindeln würde, um etwas Bestimmtes bei mir zu erreichen. Ich ging also zu ihm und tat, worum er mich gebeten hatte. Er bedankte sich mit einem Kuss ... und es blieb nicht bei dem einen.

Am nächsten Tag fand ich zur Frühstückszeit ein weiteres seiner Zettelchen mit den Worten:
»Ich liebe dich, und du?«
Das war alles. Ich nahm mir vor, ihn auf meine Antwort warten zu lassen. Als ich ihm das Mittagessen servierte, flüsterte ich ihm zu:
»Heute Nachmittag kann ich leider nicht ausgehen. Bitte warte nicht auf mich.«
Ich wollte die ganze Angelegenheit überdenken und mir über meine Gefühle erst einmal klar werden. Ich war Witwe, aber noch jung. Ich war allein und hatte weder meine Tochter noch andere Verwandte bei mir, mit denen ich mich hätte unterhalten können. Auch er war verwitwet. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen. Dennoch wollte ich ihn warten lassen. Aber ich hatte nicht mit seiner Hartnäckigkeit gerechnet. Er schrieb mir zahllose Briefchen.
»Ich warte auf dich. Wann bekomme ich die Gelegenheit, dich erneut in meine Arme schließen zu dürfen?«
Seine Blicke verfolgten mich auf Schritt und Tritt, ohne mich auch nur einen Augenblick in Ruhe zu lassen. Schließlich gab ich nach.
Warum sollte ich ihn noch länger hinhalten, wenn ich ihn doch auch begehrte?

Aus unserer Zuneigung wurde Leidenschaft. Hier von einem Spanier geliebt zu werden, war etwas völlig Außergewöhnliches. Und seine Zärtlichkeiten genoss ich sehr. Sein Zimmer befand sich im ersten Obergeschoss. Es war nicht schwierig, unbemerkt nach oben zu gelangen. Man musste nur die Treppe benutzen, da die meisten Gäste mit dem Aufzug fuhren. Das Hotel hatte vier Stockwerke und eine große Terrasse auf dem Dach. Im Hochparterre gab es einige Räume für das Personal. In einem davon standen zwei Betten. Dort schliefen die Servierdamen. Ein weiterer Raum mit vier Betten wurde von drei Küchenangestellten bewohnt. Auch mich brachte man in jenem Zimmer unter mit den Worten, es sei nur für den Übergang, man habe derzeit kein Einzelzimmer frei und sobald es ginge, würde dies geändert. Ich glaubte den Versprechungen und zog dort ein. Ich teilte also das Zimmer mit drei jungen Mädchen. Weil wir alle lediglich zum Schlafen in das Zimmer kamen, entstand kein engerer Kontakt. Wir hatten weder die gleichen Arbeitszeiten noch überschnitten sich unsere Pausen. Mein Bett stand gleich neben dem großen Fenster, das den Blick auf den Innenhof freigab. Von dort aus konnte ich den gegenüberliegenden Flügel sehen und den Balkon von Victors Zimmer. Hin und wieder sah ich ihn in der Nähe des Balkons sitzen. Ich konnte ihn deutlich erkennen. Sicherlich wählte er ausgerechnet diesen Platz, um mich auf sich aufmerksam zu machen und zu einem Besuch bei ihm anzuregen. Einmal sagte er zu mir:
»Sag mir nicht, wann du kommen willst. Ich erwarte dich immer. Ein Überraschungsbesuch wäre für mich sehr reizvoll.«

Die Zeit verging schnell. Ein laues Lüftchen und die milde Wärme der Sonne kündigten den Frühling an und luden zum Spazierengehen ein. So unternahmen wir zur Abwechslung kleine Ausflüge an das Flussufer oder zu einem nahe gelegenen Wald.

Wir gingen Hand in Hand wie Kinder, glücklich, ein paar Stunden miteinander zu verbringen. Ich erzählte ihm immer Geschichten aus meinem Leben, während er es vorzog, zuzuhören und mich zärtlich anzuschauen. Einmal zeigte ich ihm Fotos von früher, bevor ich verheiratet war, und aus der Zeit meiner Ehe. Er betrachtete sie und schaute mich dann forschend an. Dabei verglich er mich mit den Fotos. Meine harte Arbeit hatte Spuren hinterlassen, und das schwarze Kleid, das ich trug, schmeichelte mir nicht besonders. Ich war einige Jahre älter geworden und hatte viele Ängste durchlitten. Auf den Bildern, die in Spanien entstanden waren, gefiel ich mir sehr gut.
Warum soll ich das nicht zugeben?
Zumindest fand ich mich nicht hässlich. Wegen meines leichten Ganges, meiner schlanken Figur zog ich die Aufmerksamkeit der Männer auf mich. Wie es damals üblich war, überhäuften sie mich mit Komplimenten. Ich erinnere mich an eine solche Begebenheit – ich war bei Besorgungen unterwegs ...

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