Emilia Busse Die Nebel der Liebe
Geschichte
Leseprobe 3:

Epilog

(...)
Meine Mutter hatte seit 1950 keinen Kontakt mehr zu meinem Vater. Sie hatte aufgehört, ihm zu schreiben. Sie sprach auch nicht mit mir über ihn. Ich musste sie nach seiner Adresse fragen, um mein Vorhaben zu verwirklichen. Sie sagte mir, es sei meine Sache, wenn ich ihn unbedingt sehen wollte. Sie hätte ihm jedenfalls nichts zu sagen. Ich bat sie, ihm ein Foto von ihr geben zu dürfen. Meine Mutter sah noch blendend aus. Eigentlich immer, bis zu ihrem Tod. Es war ihr nicht so recht, aber schließlich gab sie meinem Drängen nach. Wie immer. Sie konnte mir kaum einen Wunsch abschlagen. Am 8. Juni 1968 starteten Marianne und ich unsere iberische Rundreise. Ich fuhr einen weißen »NSU TT«. Er wirkte richtig harmlos, weil er sich kaum vom »NSU Prinz«, dem weit verbreiteten Grundmodell, unterschied. In Wirklichkeit war es der Wolf im Schafspelz und unter Fans als »Mercedes-Schreck« bekannt. 1.200 ccm, 65 PS und nur knappe 600 kg schwer, all das machte aus der »Badewanne«, so wurde der Prinz unter Spöttern genannt, eine richtige »Rennsemmel«. Mit dem Auto hatte man eine Menge Spaß auf der Autobahn. Man konnte sich auf der linken Spur hinter einem Mercedes 220 oder 250 klemmen und ihn jagen. Nach dem ersten Anblinken sah man nur den lässigen Blick in den Rückspiegel. Dann gab der Benz-Fahrer Gas. Die »Badewanne« blieb dran und blinkte erneut. Jetzt, spätestens, waren die ungläubig aufgerissenen Augen des Lenkers im Rückspiegel des dicken Autos deutlich erkennbar. Nur zögernd wich dann der Fahrer, immer wieder zweifelnd auf seinen Tacho blickend, auf die rechte Fahrspur, um Platz zu machen für den vorbeirauschenden Kleinwagen. Mein Prinz war gut ausgestattet. Natürlich mit Liegesitzen. Aus weinrotem Leder, klar doch. Wir hatten alles dabei, um im Auto übernachten zu können und um zu kampieren. Wasser zum Waschen im großen 10-Liter-Beutel inklusive Hahn. Einen Reiseplan hatten wir nicht. Wir fuhren ins Blaue. Je nach Situation und Wetter würden wir entweder im Hotel oder im Prinz übernachten. So war es auch.

Quer durch Frankreich über San Sebastian an der Nordküste Spaniens entlang fuhren wir La Coruña entgegen. Auf kleinen und engen Straßen, andere gab es damals nicht, kamen wir an herrlich einsamen Stränden vorbei. Wir sahen, wie Bauarbeiter mit Lastern den für den Straßenbau benötigten Sand einfach vom Strand holten. Touristen gab es nicht. Nicht in Asturien und Galicien 1968. Und im Juni war der Atlantik für die Spanier, die am Wochenende gerne ihre Paella am Strand aßen, zu kalt. Nicht für uns. Wir kampierten an einem weiten und großen Strand und fuhren direkt von der Straße ab, runter in die Dünen. Nur Sand, Meer und Sonne ganz allein für uns, so weit das Auge reichte. Wir blieben zwei Tage. Als wir wieder weiterfahren wollten, grub ich mich mit der »Badewanne« in den Sand ein. Wir saßen fest. Zu Fuß marschierte ich los, um Hilfe zu holen. Nicht allzu weit entfernt traf ich einen Bauern mit seinem Sohn bei der Feldarbeit. Ihn sprach ich an. Welche Hilfsbereitschaft!
Ohne zu zögern, spannten sie die zwei Rindviecher vom Karren ab und kamen mit ihnen zum »Tatort«. Nachdem ein Seil am Abschlepphaken befestigt war, zogen Eulalia und Eufemia, so hießen die beiden schwarzen Kühe, den Prinz aus den Dünen. Ich saß am Steuer. Marianne machte Fotos von dem im Nachhinein besonders lustigen Ereignis. Zu unserer Überraschung lehnten die beiden strikt das angebotene Trinkgeld ab.

Einen Tag später waren wir in La Coruña. Jetzt galt es meinen Vater aufzusuchen. Wir fuhren zur Adresse, die mir meine Mutter gegeben hatte. Dort wohnte er nicht mehr. Gut, damit hatte man rechnen können. Die Anschrift war bereits 18 Jahre alt. Ich begann in der Nachbarschaft nach ihm zu fragen. Erfolglos. Kein Mensch konnte sich an ihn oder an seinen Namen erinnern. Ich hatte das einzige Bild von ihm, das meine Mutter besaß, ein Passbild aus dem Jahr 1942 dabei. Doch ich gab nicht auf. Auch eine Eigenschaft, die mir meine Mutter weitergegeben hat. Schließlich fand ich eine erste Spur in einem Tabakladen in der Nähe. Der freundliche ältere Mann hinter der Ladentheke konnte sich an ihn erinnern. Er war vor vielen Jahren in ein anderes Viertel gezogen. Dort begann ich in Cafés, an Zeitungskiosken und in Tabakläden am zentralen Platz
des Stadtteils nach ihm zu fragen. In einer Cafeteria erkannten ihn gleich zwei Gäste an der Bar. Er wohnte schon lange nicht mehr dort. Ich bekam gleich zwei Stadtteile vorgeschlagen, wo er von dort aus hingezogen sein sollte. Jeder der beiden hatte von einer anderen Gegend gehört. Sie stritten noch eine Weile und zogen andere Gäste zu Rate, die jedoch auch nicht mehr wussten. Ich ließ mich nicht entmutigen und suchte in den angegebenen Ortsteilen weiter. Und wieder gelang es mir, jemanden zu finden, der mir sagen konnte, dass er als Funktionär bei der »Delegación Provincial de Sindicatos« beschäftigt war. Das war eine Institution der »Nationalen Bewegung« (einzige Staatspartei unter Franco), die die Interessen der Arbeiter im Sinne des Staates regelte, eine Art Alibi-Gewerkschaft. Es war bereits sehr spät geworden und wir waren müde. Am nächsten Tag fuhren wir zum Gewerkschaftshaus. Was der gute Mann uns nicht gesagt hatte, war, dass der nächste Tag ein Feiertag war. Es war Fronleichnam, Donnerstag, 13. Juni 1968. Die Geschäfte waren geschlossen. Die Gewerkschaft allemal.
Sollte ich wirklich so viel der kostbaren Urlaubszeit für dieses Treffen opfern?
So viel Aufwand treiben?
Nur, um meinen Vater, der sich nie für mich interessiert hatte, einmal zu treffen?
An diesem Feiertag würden schöne Prozessionen stattfinden. Ich kannte sie aus meiner Kindheit. Blumenteppiche mit religiösen Motiven wurden auf die Straße gezaubert. Die Bilder und Muster bestanden aus einzelnen, kunstvoll gelegten unterschiedlich farbigen Blumen, meistens Nelken. Die Prozessionsschlangen bewegten sich rechts und links entlang der Teppiche. Lediglich die mitgeführten Außenaltäre mit der Monstranz in der Mitte des Umzugs zerstörten teilweise die Blumenmuster. Wir Kinder konnten es kaum abwarten, bis das Ende der Prozession über die Teppiche hinausgekommen war, um uns eine deftige Blumenschlacht zu liefern.

Wir beschlossen zu bleiben. Nach den Feierlichkeiten suchte ich das Café in der Nähe der Gewerkschaft auf. Es war voll. Dort kannte der Mann hinter der Theke meinen Vater, seine Anschrift jedoch nicht. Fernando kannte sie. Der war nicht da. Ich sollte warten oder später wiederkommen. Wir tranken Kaffee und danach – Kaffee. Nach etwas mehr als einer Stunde winkte er mich zu sich und stellte mich Fernando vor. Er war gerade gekommen. Er wirkte sympathisch und vertrauenswürdig und dennoch etwas zurückhaltend. Ich trug ihm mein Anliegen vor. Er ging mit mir an unseren Tisch und sagte bedeutungsschwanger:
»Ich werde Ihnen seine Adresse aufschreiben. Victors Freunde sind auch meine Freunde.«
Bei meiner ganzen Recherche hatte ich niemandem gesagt, ich wäre sein Sohn. Von meiner Existenz wusste ja niemand und er hätte gewarnt werden können. Also suchte ich einen früheren Freund meiner Familie. Ziemlich einfallslos. Ich denke, Fernando wusste sofort, wer ich war. Ich spürte es.
Hatte mein Vater seinem Freund Fernando von seinen Amouren und deren Folgen erzählt?
Würde er ihn jetzt benachrichtigen?
Ich bedankte mich bei ihm und bat ihn, nichts von mir zu sagen, ich wollte Victor überraschen.

Im ersten Stock eines eleganten Wohnhauses älteren Baustils klingelte ich kurz danach an der Haustür. Marianne wartete unten im Prinz. Es war Nachmittag. Das Treppenlicht brannte nicht. Es war ziemlich dunkel. Die Tür wurde geöffnet und grelles Sonnenlicht quoll fast zähflüssig – so kam es mir vor – in dicken Strahlen um die Silhouette einer Frau vom Inneren der Wohnung ins Treppenhaus. Sie stand in der geöffneten Tür voll im Gegenlicht. Ich blinzelte und konnte nach einem kurzen Moment der Eingewöhnung eine in Schwarz und stilvoll gekleidete Dame erkennen. Ich konnte ihr Alter auf Grund der Lichtverhältnisse nicht gut einschätzen, sie mochte im gleichen Alter gewesen sein wie meine Mutter und auch von gleicher Statur, also recht klein und schlank. Staubteile tanzten in den Sonnenstrahlen. Bestimmte emotional eindrucksvolle Momente im Leben sind mir bildhaft, wie Fotos, in Erinnerung geblieben. Das war so ein Moment. Nur eins von mehreren lebenslänglich gespeicherten Hirnfotos. Keins von großer Bedeutung, aber ein fast mystisches, geheimnisvolles. Gäbe es ein echtes Foto davon, würde es eingerahmt an der Wand hängen und es würde den Betrachter immer wieder fesseln und einladen, das Bild zu interpretieren. Sie fragte erneut:
»Sie wünschen?«
Ich war aufgeregt, obwohl ich vor dem Betätigen der Klingel noch tief Luft geholt und mich im dunklen Treppenhaus recht sicher gefühlt hatte. Ich sagte, ich würde gerne Herrn Victor Cabral sprechen und ich merkte, dass meine Stimme zitterte.
»Worum geht es?«
»Es handelt sich um eine Privatangelegenheit.«
»Er ist nicht da.«
»Wann kann ich ihn antreffen?«
»Er wird heute erst spät nach Hause kommen. Am besten, Sie kommen morgen noch einmal.«
»Danke. Ich komme dann am Vormittag vorbei.«
Sie schloss wieder die Tür. Ich stand einen Augenblick noch völlig verdutzt von dem gerade Erlebten. Als ob ich im Nachhinein noch an meinem Verhalten etwas hätte ändern können. Die Atmosphäre war unheimlich gewesen und die Frau geradezu feindselig. Ich war mir sicher. Es war seine Frau gewesen und sie hatte auch sofort gewusst, wer ich war. Trotz Gegenlicht hatte ich bemerkt, wie ihre Gesichtszüge sich verhärtet hatten und ihre Hautfarbe noch blasser geworden war. Im Kontrast zur schwarzen Kleidung hatte sie ohnehin schon blass genug gewirkt. Jetzt fiel es mir auf – sie hatte gar nicht nach meinem Namen gefragt und auch nicht, ob sie etwas ausrichten dürfe.

Die ganze Suchaktion hatte sich als äußerst mühsam und zeitaufwändig erwiesen. Es kam mir vor, als ob er seine Spuren absichtlich hatte verwischen wollen.
Aber vor wem versteckte er sich?
Und warum?
Er hatte doch nichts mehr zu verbergen, oder?
In der staatlichen Gewerkschaft hatte er eine Anstellung, die er sicher auf Grund seiner Beziehungen zur Falange (der ehemaligen ultrarechten faschistischen Partei Spaniens, ähnlich den Nationalsozialisten) und Franco bekommen hatte. Seine Tätigkeit als Nazispion im Dritten Reich war lange vorbei. Er war gefasst, in britischer Gefangenschaft gewesen und entlassen worden.
Also, wieso sollte er sich noch tarnen?
Hatte er Angst vor unliebsamem Besuch, von meinem?
Oder gab es sogar noch mehr außereheliche Kinder, die ihn hätten aufsuchen können?
Ich denke, es wird einfach nur alte Gewohnheit gewesen sein.

Am nächsten Tag klingelte ich wieder. Marianne wartete unten im Prinz. Es war später Vormittag. Das Treppenlicht brannte nicht. Die Tür wurde geöffnet und diesmal schlang sich das Sonnenlicht sanft um die Silhouette der Frau herum, vom Inneren der Wohnung ins Treppenhaus. Sie war genauso gekleidet wie am Tag zuvor, obwohl heute kein Feiertag war, und sie war genauso abweisend und unfreundlich. Sie sagte knapp:
»Herr Cabral wird sie um vier Uhr dreißig unten im Bistro erwarten.«
»Danke. Ich werde da sein. Adiós, señora.«

Um vier Uhr dreißig betraten meine Freundin und ich das Bistro. Die »Badewanne« parkte draußen in der Sonne. Das Lokal war schmal und langgezogen. Der Eingangsbereich war vom Sonnenlicht durchflutet und entsprechend einladend. Die Einrichtung war typisch. Kleine Tische, an denen Thonet-Stühle standen. Die Theke zog sich links an der Wand entlang. Gegenüber waren großflächige Spiegel angebracht. Der hintere Bereich war recht dunkel und sehr beengt, zumal sich hinter der Theke eine kleine, abgeteilte Küche anschloss, was den restlichen Raum kleiner machte. Hier wären Spiegel angebracht gewesen, um den Raum etwas größer erscheinen zu lassen, aber hier gab es keine. Zuerst dachten wir, wir seien zu früh gekommen. Das Bistro war um diese Uhrzeit fast leer. Die wenigen Gäste hielten sich im freundlichen Eingangsbereich auf. Im dunklen Teil, ganz hinten, mit dem Rücken zur Wand, saß ein einzelner Mann, unscheinbar, unauffällig. Er musste es sein. Wir näherten uns ihm. Ich fragte, ob er Señor Victor Cabral da Silva war. Er war aufgestanden und nickte. Er war kleiner als ich und nur wenig größer als meine Mutter. Er trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkle Krawatte. Wir waren sommerlich angezogen, buntes, kurzärmeliges Hemd und Bluse, leichte, helle, aber lange Hosen. Jedenfalls anders als die Einheimischen, die sich damals sehr uniform und klassisch kleideten und gedeckte Farben bevorzugten. Ich stellte Marianne als meine Freundin vor und mich als seinen Sohn. Er sagte nur:
»Ja, ich weiß.«

Er begrüßte uns mit Handschlag und lächelte verlegen. Er bot uns Platz an. Er hatte einen Espresso vor sich und fragte uns, was wir trinken wollten. Er sprach dabei sehr leise. An diesem Freitag war es besonders heiß und wir hatten Durst. Er bestellte die von uns gewünschte Coca-Cola. Wir schauten uns sekundenlang an, ohne etwas zu sagen.

Das war er nun. Mein Erzeuger. Beeindruckend fand ich ihn allerdings nicht. Er hatte noch sehr viel Ähnlichkeit mit dem einzigen Foto, das Mutter von ihm besaß und mir mitgegeben hatte. Die Haare etwas lichter und ergraut, aber mit ernstem Gesichtsausdruck und finster dreinschauend. Seine Haltung war etwas übertrieben aufrecht. Vielleicht wollte er seiner unscheinbaren und farblosen Erscheinung mit seiner militärischen Positur und seiner abweisend mürrischen Miene etwas mehr Gewicht verleihen, mehr Bedeutung verschaffen. Ich spürte keinerlei Respekt. Ich war nur neugierig, weiter nichts. Ich musste ihm nicht dankbar sein. Er hatte sich nie um Mutter und mich gekümmert.

Ich denke, den Ärzten, die mich in meiner Kindheit von lebensgefährlichen Krankheiten heilten, konnte ich danken. Sie gaben mir das Leben wieder, das fast schon verloren schien. Sie hatten mehr für mich getan als mein leiblicher Vater. Sie waren meine Väter. Ihnen verdanke ich das, was danach folgte und noch folgt. Man spricht bei Lebensrettungen oft von einer Wiedergeburt. Für mich ist das die eigentliche Geburt, ohne die Liebe meiner Mutter vom ersten Tag ihrer Schwangerschaft an, gering schätzen zu wollen. Ganz im Gegenteil. Sie hat mich als Sohn geliebt, so wie sie meinen »Produzenten« als Mann geliebt hat – und mehr noch, sie hat mir meinen Vater ersetzt. Ich habe ihn nie vermisst. Aber – ich hätte ja gar nicht sein sollen. Mich gab es nur aus Versehen. Schlimmer noch, ich entsprang in erster Linie seiner Wollust. Und nur weil er sich nicht hatte beherrschen können, gab es mich. Wenn er schon meine Mutter getäuscht hatte und wusste, dass er keine Verantwortung für ein uneheliches Kind übernehmen konnte, dann hätte er aufpassen müssen oder verhüten können. Kondome gab es damals auch schon. Ich war also nur ein Fehler von ihm, unter dem er litt, wie er es in einem Brief formuliert hatte. Und jetzt war es ihm unangenehm gewesen, dass ich ihn in seiner Wohnung aufgesucht und seine Frau in mir seinen Sohn erkannt hatte. Ich musste ihm wohl ähneln. Meine Mutter jedoch, sie hatte mich vom ersten Moment meines Daseins an gewollt. Sie hätte es sich einfacher machen und mich »wegmachen« lassen können. Auch das war damals möglich.

Ein wenig interessiert an Mutter und mir war er dann doch. Ich spürte seine Unsicherheit, weil Marianne mit uns am Tisch saß und sagte, die lange Stille unterbrechend, dass meine Freundin kein Wort Spanisch verstehe. Er fragte nach meiner Mutter. Ich erzählte ihm, dass sie mit Berta, ihrem Mann Antonio und ihrem Sohn Georg lebte und dass sie nicht wieder geheiratet habe. Ich wohnte separat mit Marianne. Dann gab ich ihm das aktuelle Foto von meiner Mutter. Er bedankte sich dafür, betrachtete es eingehend, gab aber keinen Kommentar dazu. Dann fragte er nach mir. Ich erzählte und er fragte immer weiter. Besonders enttäuscht schien er von meiner Einstellung zur Bundeswehr, wo ich meine 18-monatige Wehrpflicht erfüllt hatte und ohne Beförderungsambitionen als einfacher Gefreiter abgegangen war. Die Bundesrepublik war nicht mehr das Deutschland, das er kannte und bewunderte. Das schien er durch meine Darstellung bestätigt zu finden. Dennoch ließ er sich zu einem kurzen Kommentar hinreißen, der seine unveränderte Gesinnung verriet:
»Adolf Hitler ist auch nur ein Gefreiter gewesen.«
Ich musste mich beherrschen, um jetzt nicht eine sinnlose Diskussion vom Zaun zu brechen. Das war ein einmaliges Treffen und ich wollte es nutzen, um auch einiges über ihn zu erfahren. Ich weiß nicht, ob er diese Einmaligkeit der Begegnung auch spürte. Vielleicht dachte er, ich würde einen Kontakt mit ihm wünschen. Inzwischen hatte ich gemerkt, dass er es auf geschickte Art und Weise verstand, mich erzählen zu lassen, um nichts von sich preisgeben zu müssen. Er hatte noch gefragt, was ich beruflich täte. Ich hatte erwidert, dass ich Reproduktionsfotograf war. Möglicherweise hatte ich dabei zu viel Kenntnis über diese Tätigkeit bei ihm vorausgesetzt oder die Übersetzung ins Spanische war nicht verständlich. Er wollte gerade nachhaken, als ich ihm mit meiner Frage zuvorkam – ich wollte jetzt das Gespräch führen:
»Haben Sie Kinder?«
»Nein – das heißt, nicht mehr. Ich hatte einen Sohn mit einem angeborenen Herzfehler, der aber vor langer Zeit, noch als Kind, verstarb. Meine Frau hat danach keine Kinder mehr haben wollen.«
»Oh, das tut mir leid.«

Jetzt sah ich die Feindseligkeit seiner Frau mit anderen Augen. Sie hatte einen Sohn ihres Mannes leibhaftig vor sich gehabt, gesund und erwachsen. Ihr gemeinsames Kind hatte sterben müssen. Und dieses Kind, das sie sich vielleicht gewünscht hätte, war nicht von ihr, sondern von einer anderen Frau. Während ich sprach, streiften seine Blicke immer wieder Marianne, die inzwischen leicht gelangweilt eine Zigarette aus ihrer Packung zog. Ehe sie nach dem Feuerzeug greifen konnte, fragte er:
»Darf ich Ihnen Feuer geben?«
Ich saß rechts von ihm, Marianne zu seiner Linken am kleinen Tisch. Er nahm das Feuerzeug und reichte ihr Feuer. Marianne sagte »Gracias« und er:
»Sie sprechen ja doch Spanisch.«
»No, no«, und weiter auf Deutsch: »Leider nein.«
Dann fragte ich ihn nach seiner Beschäftigung. Kurz und schmucklos fielen seine Antworten aus. Er beschrieb seine angeblich unspektakuläre Schreibtischtätigkeit bei der Staatsgewerkschaft und sagte, dass er kurz vor der Pensionierung stehe.

Ich fragte jetzt direkt, ob er seinerzeit in Deutschland für den Geheimdienst gearbeitet habe. Er antwortete:
»Das ist Vergangenheit und hier ist nicht der Ort, um darüber zu sprechen. Reden wir lieber über die Gegenwart.«
Seine Antwort verriet mir: bis hierher und nicht weiter!
Wohin unsere Reise ginge, wollte er jetzt wissen. Nach Santiago de Compostela sollte es jetzt gehen und danach über Porto nach Lissabon. Ich wusste ja, dass er einen Bruder in Cascais hatte, in der Nähe der Hauptstadt Portugals, der mich hätte aufziehen sollen, wenn Mutter auf seinen Vorschlag eingegangen wäre. Sein Kommentar dazu beschränkte sich auf ein »Schön«.

Ich spürte seinen Unwillen, das Gespräch auszudehnen, und er die Mauer, die ich um meine Gefühle aufgebaut hatte. Ja, ich wollte ihm zu verstehen geben, dass wir ihn nicht gebraucht hatten und dass wir, Mutter und ich, auch keinen Wert mehr auf eine Beziehung mit ihm legten. Ich wollte ihm mindestens gleichwertig gegenübertreten. Ich hatte ihm gleich zu Beginn des Gesprächs erklärt, dass mein Besuch keinen finanziellen Hintergrund hätte und dass wir nach wie vor keine Forderungen an ihn stellten. Uns ging es gut, aus eigener Kraft. Deutschland ging es auch gut, aus eigener Kraft. Das Land war wieder aufgebaut und mehr noch, es war wirtschaftlich wieder eine der wichtigsten Industrienationen in der Welt. Spanien hingegen war im Vergleich rückständig und lebte hauptsächlich vom Tourismus und von landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Von daher gesehen konnte ich nicht ohne einen gewissen Stolz ihm gegenüber auftreten – ich war ja nicht nur laut meinem Ausweis Deutscher, sondern war es auch aus Überzeugung. In Deutschland war ich geboren, dort war ich ab meinem zehnten Lebensjahr aufgewachsen, dort hatte ich einen Lehrberuf erlernt und dort kannte ich die gesellschaftlichen Regeln und Umgangsformen.

Er fragte mich nach der aktuellen Lage in meiner Heimat, nach der allgemeinen Stimmung in Deutschland, nach meiner Einschätzung der Zukunft und ganz speziell nach der deutschen Jugend. Was ich ihm darüber berichten konnte, bestätigte mehr oder weniger seine Beobachtungen. Die kollektiven Schuldgefühle bezüglich des Holocaust, die Scham über den angezettelten Krieg, das hatte die deutsche Gesellschaft völlig verändert. Deutschland war jetzt ein anderes. Das war sein Resümee. Studentenunruhen, wie sie jetzt stattfanden, das wäre früher nicht möglich gewesen. In der Beurteilung der Lage waren wir uns einig, aber nicht in der Schlussfolgerung. Ich war zufrieden mit der Bundesrepublik, wie ich sie kannte. Ich hielt ihm entgegen, dass wir in Deutschland jetzt sogar die Freiheit hatten, gegen unsere eigene Führung zu protestieren. Das war früher in seinem Deutschland nicht möglich gewesen. Werte wie Presse- und Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung von Mann und Frau, von Religionen, Rassen und Nationalitäten, die Achtung der Menschenwürde, ja und sogar das Recht auf Wehrdienstverweigerung waren wertvoller und besser für unsere Gesellschaft als die Nazidiktatur es gewesen war. In ihr waren die Menschen nicht gleich vor Recht und Gesetz, es gab minderwertige Rassen, Behinderte waren nicht lebenswert, die Eliten hatten Sonderrechte, die Partei bestimmte, was Recht war, und es gab nur eine selig machende Doktrin, die keine fremden »Götter« neben Hakenkreuz und Führer duldete. Ich hatte mich ereifert in meinem Plädoyer für die Demokratie. Er hatte sich das ungerührt angehört und schwieg dazu.

Mein Vater war viel zu erfahren, um nicht zu wissen, dass es sinnlos war, sich beim ersten Treffen mit seinem eigenen Sohn auf einen politischen Diskurs einzulassen. Was wusste ich schon vom Nationalsozialismus, wie er gewesen war, ich gehörte ja der Nachkriegsgeneration an und hatte es nicht selbst erlebt so wie er. Das mochte er gedacht haben, während ich voller Inbrunst meine Ansichten vertrat. Ich war viel zu unerfahren, um ihm, der ja Teil des Systems gewesen war, überzeugend gegenübertreten zu können. Und natürlich konnte ich ihn nicht im Geringsten für meine Einstellung gewinnen, aber ich wollte ihn zumindest zum Nachdenken bringen.

Okay, ich sah es ein, es war sinnlos. Wie konnte ich annehmen, ihn, der den amtierenden Staatschef und Diktator Franco persönlich kannte, der aus tiefster Überzeugung für den militärischen Nachrichtendienst des Dritten Reiches gearbeitet hatte, auch nur um einen Millimeter bewegen zu können. Er konnte gar nicht stolz auf mich sein. Genauso wenig wie er es auf das Nachkriegsdeutschland sein konnte. Seine Befürchtungen über die, seiner Meinung nach, nachteilige Entwicklung der Bundesrepublik hatte ich ihm ja durch mich selbst und durch meine Darstellung bestätigt. Ganz zu schweigen von der DDR. Er hatte noch wissen wollen, ob ich an die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten glaubte und ob Westdeutschland die Gebiete östlich der Oder aufgeben würde. Ich wies ihn daraufhin, dass es noch keinen Friedensvertrag gab, der diese Fragen endgültig klärte. Wir leben 23 Jahre nach Kriegsende immer noch im völkerrechtlich bizarren Zustand eines Waffenstillstands. Dennoch würde ich nicht an die Wiedervereinigung glauben und schon gar nicht an die Rückgabe der verlorenen Gebiete im Osten. Milde lächelnd hatte er mir zugehört. Er unterbrach nicht und fragte erst weiter, als ich eine Pause einlegte. Permanent demonstrierte er seine kultivierten Umgangsformen. Ich konnte es förmlich von seiner Stirn ablesen:
»Armes Deutschland« stand da geschrieben.
(...)

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