Emilia Busse Die Nebel der Liebe
Geschichte
Leseprobe 2:

Die Flucht

(...)
Eines Nachts bemerkte ich, dass ein Luftangriff ganz in der Nähe stattfand. Ich weckte meine Tochter und wir konnten vom Fenster aus zuschauen. Der Himmel war von grellen Scheinwerferfingern, die nach den Bombern suchten, und vom Dauerfeuer der Geschütze erleuchtet. Wir sahen ein brennendes Flugzeug abstürzen. Sicher bombardierten sie Stettin und die deutsche Flak wehrte sich nach Kräften. Furcht einflößend und schaurig-schön zugleich. Welch ein Spektakel!

Während in der offiziellen Propaganda unverzagt vom Endsieg die Rede war, kam die russische Front jetzt mit Riesenschritten näher. Für den Fall, dass wir hätten fliehen müssen, war der Junge zum Glück wieder bei uns. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn er noch im Krankenhaus gewesen wäre.

Der Freund meiner Tante kam nun immer öfter, um nach ihr zu sehen. Durch ihn erfuhren wir alle Neuigkeiten. Man erzählte sich, dass die Rote Armee auf ihrem Vormarsch barbarisch gegen die deutsche Zivilbevölkerung vorging. Sie plünderten, raubten, mordeten und vergewaltigten ohne Rücksicht auf Alter oder sonst etwas. Nachdem die Rotarmisten, angestachelt von der sowjetischen Militärführung, geschändet, Ohrringe von den Ohren abgerissen, beringte Finger abgehackt und alles, was von Wert war, gestohlen hatten, konnte man sich als deutsche Frau glücklich schätzen mit dem Leben davongekommen zu sein.
»Und du? Was wirst du machen, wenn die Russen kommen?
Fliehen?«, fragte Tante Anna ihren Freund.
»Wo soll ich denn hingehen? Ich werde hier erwarten, was das Schicksal für mich bestimmt hat, und wenn ich sterben soll, dann werde ich eben sterben.«
Emil war eigentlich überzeugter Kommunist und von der politischen Einstellung her Gegner des Nazi-Regimes. Doch ob ihm das was nützen würde, blieb dahingestellt.

Viele Leute dachten über ihre Flucht nach und begannen bereits, ihre Wertgegenstände zu verstecken, um sie bis zur Wiederkehr vor Diebstahl zu sichern. Wiederkehr! Welch ein Trugschluss!

Offenbar glaubten manche noch an den »Endsieg« oder zumindest an eine Rückkehr in die Heimat nach dem Krieg. Von den Ausmaßen der herannahenden Katastrophe ahnten die Wenigsten etwas.

Die Müllers gruben ein Loch in ihrem Keller, um dort ihr Silberbesteck und ihren Schmuck zu verbergen. Ich wollte meiner Tante auch dazu raten:
»Wenn du mich fragst, wäre es das Beste, deine Ohrringe und Goldketten irgendwo aufzubewahren. Aber zieh sie bloß nicht an. Man könnte dich deswegen überfallen und verletzen.«
Auch Berta und ich überlegten, ob wir etwas zu verstecken hätten. Ihr lag viel an vier großen Büchern, die ihr Vater ihr einmal geschenkt hatte. Natürlich war da auch noch die Puppe, obwohl sie nicht mehr mit ihr spielte. Bei einer Flucht konnten wir nur das Nötigste mitnehmen. Ein Buch handelte von Pflanzen, eins von Tieren, eins von Mineralien und eins von Astronomie. Alle mit vielen farbigen Abbildungen. Berta mochte besonders das Botanikbuch. Sie alle waren ein Andenken an ihren Vater. Es hätte uns sehr leidgetan, sie zu verlieren. Also beschlossen wir, sie in einem der Lager im Hof zu verstecken. Schon bald beluden viele Leute ihre Autos mit Koffern und Säcken und flohen in aller Eile. Bis dahin hatten nur sehr wenige der Einheimischen die noch halbwegs funktionierenden Verkehrsverbindungen benutzt, um nach Westen zu fliehen, zumal für ganz Pommern die Flucht der Bevölkerung von der Behörde ausdrücklich verboten war. Im Rundfunk wurde die Bevölkerung dazu aufgefordert, die Heimat nicht aufzugeben und sich zur Wehr zu setzen. Nur einige Tage später wurde plötzlich über Lautsprecher die Anweisung gegeben, Cammin zu evakuieren. Doch nun war es zu spät, es verkehrten keine Züge mehr. Am Bahnhof stand nur noch ein Güterzug, der für die Beförderung von Personen bereitstand.
Was sollten wir tun?
Ich beriet mich mit meiner Tochter.
»Die Müllers wollen nicht fliehen, Mama. Auch die beiden Mädchen aus der Wäscherei bleiben hier. Ich glaube, wir können auch hierbleiben und abwarten, was geschieht.«
»Und wenn all das stimmt, was man sich erzählt?«
»Ach was, das wird schon nicht so schlimm sein!«
Ich ging zu Tante Anna und fragte sie, was sie machen wolle.
»Ich verlasse mein Haus nicht! Komme, was wolle, ich kann nicht mehr laufen. Wenn ich sterben muss, möchte ich es hier tun. Ihr seid noch jung, geht ihr fort von hier, geht!«

Ich konnte in der Nacht nicht schlafen. Plötzlich hörte ich merkwürdige Geräusche. Ich weckte meine Tochter und wir schauten aus dem Fenster. Welch ein Anblick! Auf der Straße waren unzählige Pferdewagen. Männer und Frauen gingen neben ihnen her. Dicht gedrängt, ohne Platz zwischen den Wagen, um auszuscheren, umzudrehen oder gar um zu überholen, zog der Treck direkt vor unserer Haustür vorbei. Die Frauen trugen lange Röcke, die fast bis zu den Knien nass waren. Der geschmolzene Schnee hatte sich durch die Pferde und Wagen zu Morast verwandelt.
Wo kamen diese vielen Leute her?
Nach den mit Schlamm verschmierten Stiefeln und den nassen Röcken zu urteilen, waren sie nicht von hier, sondern hatten schon längere Wegstrecken hinter sich. Sie sahen aus wie Landwirte. Vor fast jeden Wagen waren zwei Tiere angespannt. Immer wieder kam der Zug zum Stehen.
Waren die Straßen so überfüllt?
Das ging die ganze Nacht so. Mal hielt die Flüchtlingskarawane, mal stapfte sie ein Stück weiter. Auch am nächsten Morgen, es war Anfang März, zogen noch immer die nicht enden wollenden Kolonnen von Menschen mit Pferdefuhrwagen, Leiterwagen, Handkarren, Fahrrädern und allem, was half, Hab und Gut zu transportieren, durch unseren Ort. Sie alle flohen vor dem Ansturm der Russen. Meine Ungeduld wurde immer größer. Meine Tochter wollte nicht weggehen und ich hatte große Angst um sie. Sie war jung und hübsch. Sie würde jedermanns Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Also fragte ich sie erneut:
»Wollen wir nicht lieber auch fliehen?«
»Aber Mama, viele bleiben hier, nicht nur die Müllers. Die Leute aus der Bäckerei, unsere Nachbarn, unsere Tante, ihr Freund Emil, sie alle bleiben hier. Ich will doch nur weiter in der Wäscherei arbeiten. Heute bin ich wieder dran.«
»Ich glaube nicht, dass sie heute arbeiten. Wenn du unbedingt hingehen willst, ist es besser, wenn wir alle drei gehen. Wir packen zwei Koffer mit Kleidung, für alle Fälle. Wenn die Familie Müller nichts dagegen hat, bleiben wir dort für ein paar Tage zusammen. Wer weiß schon, wie die Dinge sich entwickeln und was noch alles passieren kann.«

Noch hatten wir keine Entscheidung getroffen. Montag, 5. März 1945, gegen elf Uhr morgens dann, entschlossen wir uns nach langem Meinungsaustausch endlich, das Haus zu verlassen. Ich hatte bereits angefangen, unser Mittagessen zu kochen, Kartoffeln mit Kohl und Speck wie so oft in letzter Zeit. Ich stellte den Herd aus und ließ das Essen halb gekocht darauf stehen. Was hatte das schon für eine Bedeutung angesichts der großen Gefahr, in der wir uns befanden. Jetzt, da wir uns so spät entschieden hatten, war Eile geboten. Wir würden niemals zurückkommen. Das war jedenfalls mein Eindruck.

Bevor wir auf die Straße traten, gingen wir zur Tante, um uns zu verabschieden.
»Tante, komm doch mit uns.«
»Nein, ich bleibe hier. Geht ihr nur. Gott möge euch beschützen.«
»Dich auch, Tante Anna.«
Wir umarmten und küssten uns. Als sie den Kleinen an sich drückte, fing sie an zu weinen. In diesem Moment begriff ich, wie sehr sie die Trennung von ihm schmerzte. Sie liebte ihn so sehr. Sie tat mir leid. Der Gedanke daran, sie hier so alleine zurückzulassen, ließ auch meine Augen feucht werden. Ich sagte zu ihr:
»Danke für alles. Du hast so viel für uns getan!«

Wir nahmen unseren ganzen Mut zusammen, versuchten unsere Gefühle in den Griff zu bekommen und verließen schnell das Haus. Berta trug die Koffer, während ich den Kinderwagen schob, in dem Victor lag, gut zugedeckt und warm angezogen. Ich hatte eine zusätzliche Decke mitgenommen für den Fall, dass es noch kälter würde. Es herrschte eine durchdringende, trockene Kälte und es war bewölkt. Wir kamen bei Müllers an und fragten, ob wir bleiben dürften. Sie nahmen uns sofort auf. Es waren sehr gute Menschen. Sie waren deprimiert und sehr besorgt. Gearbeitet wurde nicht mehr. Am Nachmittag konnten wir das Donnern der Kanonen- und Panzergeschütze hören. Schon bald darauf mischte sich auch das Geknatter von Maschinengewehren darunter.
Wurde jetzt schon mitten in unserem Ort gekämpft?
Herr Müller sagte:
»Es wird das Beste sein, wenn wir alle sofort in den Keller gehen.«
Der Keller war extrem klein für sieben Personen, die wir waren. Es war eigentlich ein nur halbhoher Vorratskeller für Lebensmittel. Wir arrangierten uns so gut wie irgend möglich. Den Kinderwagen konnte ich nicht mitnehmen, also ließ ich ihn im Hausgang stehen. Ich wickelte den Jungen in die Decke und nahm ihn auf den Arm. Im Keller kauerten wir uns alle hin. Victor hatte ich auf dem Schoß. Herr Müller schloss die Tür und bat um absolute Ruhe. Es bestand kein Zweifel mehr – der Kampf um Cammin hatte begonnen. Der Gefechtslärm näherte sich immer mehr. Plötzlich hörten wir das Geräusch von Schritten im Gang über uns. Jemand war ins Haus eingedrungen. Wir schauten uns an, ohne ein Wort zu sagen. Für einen Moment dachte ich, mein Herzklopfen würde uns alle verraten. Es waren schwere Schritte, wie von Militärstiefeln. Wir durchlitten unruhige Minuten voller Angst, bis wir merkten, dass wieder Stille eingekehrt war. Die Furcht einflößenden Einschläge der Panzerkanonen und auch das Maschinengewehrfeuer hatten sich entfernt.
Was war geschehen?
Herr Müller wollte es wissen und kletterte aus unserem Versteck.
»Wartet hier, ich sehe nach, was los ist.«
Als er wiederkam, rief er:
»Die Russen hatten die Stadt eingenommen, aber unsere Leute haben sie wieder zurückgeschlagen.«

Heute wissen wir aus den Erinnerungen von weiteren Zeitzeugen, dass nur wenige Soldaten, Hitlerjungen und Volkssturmmänner ohne genügend Munition die Stadt verteidigten. An den Ortseingängen und an strategischen Kreuzungen, hinter Panzersperren verschanzt, wehrten sie sich mit Panzerfäusten und MGs, so gut es ging, gegen die anstürmenden Panzer mit aufgesessener Infanterie. Aufopferungsvoll kämpften sie, um der noch verbliebenen Bevölkerung die Möglichkeit zur Flucht auf dem Wasserweg zu geben. Im Hafen wurde der Abtransport per Schiff fieberhaft vorbereitet. Außerdem zwängte sich noch ein Flüchtlingstreck, aus Greifenberg kommend, das der Russe bereits eingenommen hatte, durch Cammin, um am nordöstlichen Ortsausgang auf die Landstraße nach Dievenow zu kommen. Während den Straßenkämpfen hatten Flüchtlinge des Trecks ihre Fuhrwerke und andere Wagen in die engen Straßen getrieben, um vor den einrückenden Panzern Schutz zu suchen. Es müssen sich an diesem Nachmittag chaotische Szenen abgespielt haben. Jedenfalls gelang es dem Treck nach dem zwischenzeitlichen Rückzug der Russen, am Moorbad vorbei aus der Stadt zu kommen. Unsere Verteidiger hatten unerwartet Unterstützung durch Artilleriefeuer eines deutschen Zerstörers bekommen, der auf die russischen Panzerverbände schoss. Es lag hinter der vor Cammin liegenden Insel Gristow versteckt. Von Zeit zu Zeit verließ er den Schutz der Insel, um die anrollenden Panzer unter Feuer zu nehmen. Zwei Panzerspitzen waren es, die aus Gülzow und Revenow kommend bis vor die Ortseingänge von Cammin vorgestoßen waren und nun auf Grund der heftigen Gegenwehr aufgehalten wurden. Sie nahmen ihrerseits die Stadt unter heftigen Beschuss. Einige durchgebrochene Panzer wurden am Bahnhof, an der Hindenburgstraße und am Getreidesilo abgeschossen oder außer Gefecht gesetzt. Fernsprech- und Funkverbindungen waren unterbrochen. Der wachsenden russischen Übermacht konnten die wenigen deutschen Soldaten nicht lange Widerstand leisten. Schließlich rollten die russischen Panzer in Cammin ein. Die aufsitzende Infanterie sprang von den Panzern ab, um Tod und Brand in die Stadt zu bringen. In dem darauf folgenden Inferno von Feuersbrunst, Schändung, Raub und Mord erlebten die zurückgebliebenen Bewohner den Vandalismus am eigenen Leib. Die Russen plünderten und gruben dabei zielstrebig die zuvor sorgsam vergrabenen Wertsachen wieder aus. Sie stöberten versteckte Frauen auf und feierten wahre Orgien der Vergewaltigung. Dem barbarischen Geschehen waren insbesondere Alte und Kranke nicht gewachsen. Viele starben in der Folge an Hunger, Kälte und Schwäche. Man weiß von alten Männern, die deshalb erschossen wurden, weil sie nicht schnell genug ihre Armbanduhr hergegeben hatten. Gegen vier Uhr in der Nacht stand ganz Cammin in Flammen. In einem klugen Manöver hatten sich die verteidigenden Truppenteile mit ihren Verwundeten unter der Mauer bei der Hafenbrücke gesammelt und zu den bereits eingestiegenen Zivilisten auf dem letzten Flüchtlingstransporter, einem Artillerieträger, eingeschifft.

Nach dem Krieg erfuhr man über die Gräueltaten und Verbrechen auf beiden Seiten der Kriegsgegner. Völlig unverständlich erscheinen mir die damaligen Ereignisse auch heute noch. Wie konnte es möglich sein, dass Angehörige eines so feinfühligen und musikalischen Volkes, wie des russischen, solche Untaten begehen konnten. Ein Volk, das so wunderbare Musik und Komponisten wie Tschaikowsky, Rachmaninow, Prokofiev, Mussorgsky oder Rimski-Korsakow, um nur einige zu nennen, hervorgebracht hatte. »Schwanensee« zum Beispiel, ist mein bevorzugtes Ballett – und sicherlich nicht nur meins. Und weiter die russische Literatur mit »Krieg und Frieden« von Tolstoi oder »Die Brüder Karamasow« von Dostojewski, um wiederum nur zwei von vielen aufzuzählen.
War es die Rache für das, was sie zuvor von der deutschen Besatzung hatten erleiden müssen?
Adolf Hitler hatte in seinem Rassenwahn durch seine Besatzer und SS-Schergen nicht nur morden lassen, sondern dieses empfindsame Volk auch noch zutiefst gedemütigt. Es wurde von den deutschen »Herrenmenschen« als minderwertige Unterrasse behandelt, die bestenfalls zu versklaven war. Und wie konnten Deutsche, die ebenfalls über eine Hochkultur verfügten, auf solche wahnwitzigen, menschenverachtenden Rassentheorien, die Hitler und der Nationalsozialismus in lebenswerte und nicht lebenswerte Volksstämme einteilten, hereinfallen?
Juden und Slawen waren als minderwertig eingestuft worden, deshalb sollten sie ausgerottet werden.

Von alledem, was da draußen vor sich ging und sich noch zusammenbraute, hatten wir, im Keller versteckt, keine Ahnung. Es dämmerte bereits. Wie sollten wir die Nacht in einem so kleinen Raum verbringen?
Marie-Luise, eines der Mädchen, konnte es nicht länger aushalten. Sie ging nach draußen und kehrte nach einer Weile aufgeregt zurück. Sie berichtete, noch völlig außer Atem, dass im Hafen ein Schiff läge, das verwundete Soldaten und Flüchtlinge aufnehme. Zu allem entschlossen verkündete sie:
»Ich fahre mit!«
Als meine Tochter das hörte, rief sie sofort:
»Ich komme auch mit. Komm, Mama, wir gehen! Beeil dich!«
»Endlich hast du dich dazu entschlossen, Kind!«

Das Ehepaar Müller hatte sich nun auch entschieden, von hier zu fliehen. Sie wollten es nur noch seiner Mutter sagen, die den zweiten Stock des Hauses bewohnte. Genau wie Tante Anna wollte sie nicht fort, weil sie schlecht zu Fuß war und nicht weit laufen konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte sich noch keiner vorstellen, dass wir niemals nach Hause zurückkehren würden.

Eines der Mädchen verschwand so schnell, dass wir es gar nicht mehr sahen. Berta musste warten, bis ich Victor in den Kinderwagen gelegt und gut zugedeckt hatte. Draußen erwartete uns ein schauriges Szenario. Schneegestöber hatte eingesetzt, es war fast dunkel geworden, an vielen Stellen brannte es und der beißende Geruch von Verbranntem mischte sich mit dem warmen Rauch und dem kalten Schnee – und über alldem der Dauerbeschuss. Meine Tochter nahm die zwei Koffer. Mehr rennend als gehend machte sie sich in Richtung Hafen auf den Weg. Der war nicht besonders weit entfernt. Ein Rad des Kinderwagens klemmte ein wenig und ich merkte schnell, dass ich so nicht mit Berta, die sich immer weiter entfernte, würde mithalten können. Mehrfach rief ich, sie solle auf mich warten, doch sie stürmte unbeirrt weiter. Ohne nachzudenken, riss ich Victor aus dem Wagen, wickelte ihn in seine Decke und rannte mit ihm in den Armen meiner Tochter hinterher. Das Rattern der Maschinengewehre begleitete uns. Die Einschläge von großen Geschossen waren jetzt viel näher. Die Straße, die seitlich in den Hafen mündete, fiel steil ab. Auf der einen Seite war sie zur See offen mit Sicht auf den Hafen und auf das zum Ablegen bereite Schiff und auf der anderen, der Stadt zugewandten Seite war sie durch hohe Stützmauern geschützt. Plötzlich flog eine Feuerkugel, raketengleich, über meinen Kopf hinweg in Richtung Wasser. Ein Panzergeschoss. Vor Schreck stolperte ich über die Decke, die auf der einen Seite zu tief hing. Ich stürzte mit Victor im Arm, doch glücklicherweise geschah dem Kleinen nichts. Die feindlichen Panzer nahmen den Hafen und das Schiff, das dort vor Anker lag, unter Trommelfeuer. Die Mauern der schmalen Straße schützten uns vor den Geschossen. Ich stand, so schnell ich konnte, wieder auf und rannte weiter. Berta hatte schon den Hafen erreicht und sah, dass der Flüchtlingstransporter bereits abgelegt hatte und sich von der Kaimauer entfernte. Ich hörte sie schreien und sah sie mit einem Taschentuch winken.
Waren wir zu spät gekommen?
Hinter mir hörte ich Rufe. Ich drehte mich um und sah eine Gruppe von Frauen mit ihren Kindern herbeieilen. Voller Sorge beobachteten wir, während wir rannten, wie sich das Schiff bewegte.
Würde es zurückkommen?
Ja!
Es drehte wieder bei, man warf ein Tau, das meine Tochter an einem Poller festmachte. Eine Treppe wurde ausgelegt, und hastig hoben zwei Matrosen alle Frauen und Kinder an Bord. Sofort legten wir wieder ab und schnell entfernte sich das Schiff vom Kai, diesmal endgültig und mit uns an Deck!

Es wurde Nacht und an Bord brannte kein einziges Licht. Ein Matrose führte uns mit einer Taschenlampe eine Treppe hinab in das Schiffsinnere und wir betraten ein mit auf dem Boden kauernden Menschen überfülltes Deck. Es war absolut dunkel und wir hatten kaum noch Platz. Wir konnten uns gerade noch auf unsere Koffer setzen. Ich nahm Victor wieder auf meinen Schoß. Wir hörten noch zwei oder drei Mal das Pfeifen der anfliegenden Panzergeschosse und den unmittelbar folgenden Wassereinschlag. Doch zum Glück wurde das Schiff nicht getroffen. In völliger Finsternis auf unseren Koffern sitzend und umgeben von fremden Leuten konnten wir nicht an Schlaf denken. Die durchlebte Panik, die Nervenanspannung und die Angst vor dem, was noch kommen konnte, hielt uns wach. Die kleinen Kratzer, die ich mir bei dem Sturz am Knie zugezogen hatte, brannten ein wenig. Wir verspürten bald Hunger, da wir seit dem Frühstück nichts mehr zu uns genommen hatten.
Wo waren die Müllers geblieben?
Würden wir sie wiedersehen?
Jetzt erinnerte ich mich, eine offene Packung Kekse auf dem Boden liegen gesehen zu haben, als wir das Haus der Familie Müller überstürzt verließen. Ich hätte sie nur aufzuheben brauchen und mein Junge könnte jetzt etwas zu sich nehmen.
Wer hatte sie da wohl fallen gelassen?
Etwa russische Soldaten?
Wenn sie in den Keller gekommen wären und uns entdeckt hätten ...

Wir waren nicht mehr dort, das war jetzt nicht mehr wichtig. Was jetzt zählte, war, dass man uns an einen Ostseehafen brachte, der nicht von den sowjetischen Streitkräften besetzt war, und wir dort in Frieden von Bord gehen konnten.

Einige Zeit später, die uns wie eine kleine Ewigkeit vorkam, legte das Schiff auf der Insel Wollin westlich von Cammin an. Dort wurden wir an Land gesetzt.

Wir schauten uns um. Es war tiefe Nacht und der Himmel bewölkt. Kein Mondlicht erhellte die Umgebung. Doch in der Ferne, auf der anderen Seite der spiegelglatten Wasserfläche des Boddens, sahen wir ein gigantisches rotes Leuchten. Ein Flammenmeer erleuchtete den Himmel. Unser Heimatort Cammin, aus dem wir gerade geflohen waren, brannte lichterloh. Und es war nicht nur die Kreisstadt, die in Flammen stand. Das Bauerndorf Revenow wurde ebenfalls vom Feuer verzehrt. Die russischen Truppen brannten bei ihrem Vorrücken offenbar alles nieder, gleichgültig, ob es sich um ganze Ortschaften oder nur um vereinzelte Höfe handelte. Dem waren wir gerade noch rechtzeitig entkommen.
Was war nur mit denen geschehen, die nicht mit uns geflohen waren?
Was war mit unserer Tante?
Nie werde ich diese dunkle Nacht vergessen, mit ihren Flammen, die so viele vertraute Häuser zerstörten und vielleicht auch die Menschen töteten, die dort geblieben waren.
(...)

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